Andreas Koch und Peter Mandl (Hrsg.) (2003): Multi-Agenten-Systeme in der Geographie. Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Klagenfurt. Klagenfurter Geographische Schriften, Heft 23.

 

Einleitung zum Thema „Multi-Agenten-Systeme in der Geographie“

 

„Multi-Agenten-Systeme in der Geographie“, so lautete der Titel einer Fachsitzung, die die Herausgeber dieses Bandes am 54. Deutschen Geographentag im Oktober 2003 in Bern organisierten. Die Fachsitzung war die einzige, die ein methodisches Thema, sowie deren Anwendung und Entwicklung in den Mittelpunkt des Interesses stellte. In fünf Vorträgen wurden auf unterschiedliche Art und Weise Brücken zwischen den „Welten“ Geographie und Methodik geschlagen. Im vorliegenden Band werden nun die überarbeiteten Fassungen der Referate schriftlich einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Es wird ein weites Themenspektrum abgehandelt, das es interessierten Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich einen aktuellen Überblick zu den vielseitigen Einsatzmöglichkeiten von Multi-Agenten-Systemen (MAS) in der Geographie zu verschaffen. Durch zwei einführende und allgemein gehaltene Beiträge der beiden Herausgeber wird der vorliegende Band ergänzt.

Der Einsatz von MAS in der Geographie ist nicht vollkommen neu, er wird jedoch nicht in allen Teildisziplinen gleichermaßen als Erfolg versprechende Alternative oder Ergänzung zu herkömmlichen Denkweisen bzw. Modellansätzen gesehen. Gerade im angelsächsischen Raum bemühen sich Geographinnen und Geographen verstärkt darum, räumliche Fragestellungen mit dem Instrumentarium der Agententechnologie aufzugreifen. Wie auch bei anderen Methoden geht es zunächst darum, Modelle zu entwickeln, die das Mensch-Umwelt- oder Gesellschaft-Umwelt-Verhältnis beschreiben und verstehen helfen sollen. Ergänzend hierzu liefern MAS-Modelle und darauf aufbauende Simulationen jedoch die Möglichkeit, derartige Interaktionszusammenhänge in ihrer dynamischen Perspektive zu untersuchen. Die Frage, wen oder was Agenten im Einzelnen repräsentieren, kann dabei – wie die Beiträge zeigen – ganz unterschiedlich beantwortet werden. In allen Fällen ist ein solcher Agent ein mit bestimmten Eigenschaften, Fähigkeiten, Einschränkungen, Charakteristika, kurz: Regeln ausgestattetes ‚Etwas’, das mit anderen Agenten und mit seiner Umwelt kommuniziert. Nicht zuletzt diese Synthese aus Statik und Dynamik, Struktur und Prozess, Element und Relation, Teil und Ganzem ist es, die Multi-Agenten-Systeme so interessant macht.

Neben der Geographie sind es noch eine Reihe weiterer Disziplinen, die sich der agentenbasierten Modellierung und Simulation realweltlicher Phänomene bedienen. Ob Soziologie, Politologie, Ökonomie oder Landschaftsökologie, Biologie, Geologie und andere – auf der Suche nach Erklärungsansätzen komplexer Beziehungsmuster spielen MAS immer dann eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, das Ereignishafte ihrer spezifischen Objekte untereinander und im Kontext zu anderen Einheiten zu untersuchen. Als Beispiele seien die Entstehung, Erhaltung, Veränderung und Auflösung von sozialen Netzwerken, von Normen oder Religionen, die Bedeutung von Kooperation, Kommunikation und Aushandlungsvorgängen, die Veränderungen von Landnutzungen, Verkehrsprozesse, die räumliche Ausbreitung von Krankheitserregern oder Urbanisierungsprozesse genannt. In diesen Kontext sind auch die Beiträge eingebettet.

Peter Mandl geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob MAS ein tragfähiger Modellierungsansatz für die Geographie sein können. Er formuliert zuerst ein paar Thesen, warum sich das Modellieren in der deutschsprachigen Geographie bisher nicht durchsetzen konnte. Da ist zuerst die mangelnde Genauigkeit, mit der sich geographische Phänomene mit den bestehenden Modellansätzen abbilden lassen. Im Artikel werden Indizien für diese Behauptung vorgebracht. Der zweite Grund ist die mangelnde Bedienbarkeit vorhandener Modelle. Die Einführung Geographischer Informationssysteme hat da auch nicht die anfangs erwartete Lösung gebracht. Der dritte Kritikpunkt ist die fehlende Interoperabilität bestehender computerunterstützter Ansätze. Im zweiten Teil des Artikels werden Multi-Agenten-Systeme ausführlich charakterisiert und ihre generische Raum-Zeitlichkeit diskutiert, was sie als räumlich explizite Modelle in der Geographie einsetzbar erscheinen lässt. Es wird anschließend eine Typologie von räumlich expliziten MAS-Modellen vorgestellt, die auf Basis der räumlichen und zeitlichen Auflösung neun Gruppen unterscheidet. Es werden lauffähige Beispiel-Modelle besprochen, die die Leserschaft auf der, diesen Band ergänzenden Internetseite, als Applets, ausprobieren kann. Das abschließende Resümee fasst die Vorteile von MAS nochmals zusammen und es werden einige Ausblicke auf sinnvolle Entwicklungen gegeben, durch die in den nächsten Jahren Multi-Agenten-Systeme zu einem tragfähigen Modellierungsansatz in der Geographie werden können.

Mit einem Beitrag zur agentenbasierten sozialgeographischen Geosimulation entwirft Andre­as Koch einen systemtheoretischen Referenzrahmen, der es erlaubt, die Modellierung und Simulation räumlicher Sachverhalte mit Hilfe von MAS vorzunehmen. Auf der Grundlage der Actor-Network-Theory und der Systemtheorie nach Luhmann, die in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften eine tiefe und anhaltende Resonanz gefunden hat und soziale Systeme auf mehreren Ebenen differenziert, werden in analogisierender und spezifizierender Weise räumliche Systeme konzipiert. Auf diese Weise ist es zum einen möglich, Interaktionszusammenhänge stärker als bisher zu differenzieren. Zu den Interaktionen unter Individuen und zwischen Individuen und ihren räumlichen (Um)Welten treten Interaktionen unter räumlichen Einheiten hinzu, die sich so in ihrer Eigenständigkeit und in ihrer Interdependenz modellieren lassen. Zum anderen können die Einschränkungen, denen zelluläre Automaten – als bisher dominante Methode der Raumrepräsentation – unterworfen sind, in gewissem Umfang überwunden werden, da räumliche Systeme, wie soziale Systeme auch, durch Multi-Agenten-Systeme repräsentiert werden. Für eine methodische Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen dienen zum einen Simulationstools wie beispielsweise Ascape oder MASON und zum anderen Vorarbeiten einer Forschergruppe, die im Rahmen eines DFG geförderten Sonderforschungsbereichs die agentenbasierte Modellierung und Simulation sozialer Systeme entwickeln.

Mit der Verwendung von Multi-Agenten-Systemen zur Simulation von Konsumentenverhalten und Shopping-Center-Planungen liefern Roland Hesse und Jürgen Rauh einen innovativen Beitrag zur Einzelhandelsforschung. Auf der Grundlage eines spezifisch hierfür entwickelten Visualisierungs- und Simulationsprogramms und vorhandener empirischer Befunde formulieren sie einen methodischen Ansatz zur Untersuchung des räumlichen Konsumentenverhaltens einerseits und der räumlichen Angebotsstruktur andererseits. Die Eingriffsmöglichkeiten der Planung bilden hierbei den übergeordneten Kontext. Am Beispiel eines bayerischen Shopping-Centers werden die Agenten konkret dafür eingesetzt, nach soziodemographischen und sozioökonomischen Variablen unterschiedliche Kundentypen zu repräsentieren, die sich hinsichtlich ihrer Geschäftsbesuche, ihrer Kopplungsvorgänge und der von ihnen präferierten Centereingängen weiter differenzieren lassen. Das Computerprogramm ist dabei in der Lage, alle diese Variablen und Prozesse graphisch, tabellarisch und kartographisch zu visualisieren. Mit Bezug zum Branchentyp der Geschäfte ist es unter anderem möglich, die Gesamtzahl der Geschäftsbesuche, deren Anteile an Ziel-, Erlebnis- und Impulsbesuchen, die Kopplungshäufigkeiten oder Kopplungsverflechtungen zu analysieren. Komplementär zur Nachfrageseite erlaubt das mikroanalytische Simulationsmodell für den Anbieter (eines Geschäfts im Shopping-Center oder eines Shopping-Center-Betreibers) eine Möglichkeit der Optimierung seiner Geschäftsanordnung(en). Denn im Simulationsprogramm ist möglich, was einem in der Realität verwehrt bleibt: Die beliebig wechselnde räumliche Anordnung von Geschäften, die je nach gewählten Indikatoren unterschiedliche Szenarien der Shopping-Center-Planung offerieren. Wenngleich Hesse und Rauh betonen, dass auch im Falle eines MAS-gestützten Ansatzes der Übertragbarkeit der Ergebnisse natürlich Grenzen gesetzt sind, so ist es aufgrund der Flexibilität des Computerprogramms gleichwohl möglich, neben Shopping-Centern auch andere räumliche Bezugseinheiten wie zum Beispiel Innenstädte zu modellieren.

Mit der Simulation von Landschaftsveränderungen klein- und großräumiger Natur mit MAS und Geographischen Informationssystemen beschäftigt sich der Beitrag von Wolfgang Loibl und Jan Peters-Anders. Zuerst werden Agenten charakterisiert, ihre Einsetzbarkeit zur Modellierung räumlicher Systeme besprochen sowie ihr Entscheidungsverhalten und deren Modellierung näher diskutiert. Dann wird in Verschränkung des Pressure - State - Response Konzeptes (PSR) mit MAS die theoretische Grundlage der späteren Modelle erläutert. Die Landschaftsveränderungen werden als Ausdruck und Ergebnis der Summe individueller menschlicher Entscheidungen und Aktivitäten verstanden. Es werden dann zwei Modelle mit diesem Ansatz vorgestellt. Das erste zeigt die Landschaftsveränderung in suburbanen Räumen aufgrund der Kernstadt-Umland Wanderungen der Bevölkerung. Dabei ist die Abbildung des Entscheidungsverhaltens der Migranten basierend auf einer Palette von Kriterien zentrales Modellierungskonzept. Die Ergebnisse der Simulation des Wohnsiedlungsflächenzuwachses zwischen 1968 und 1999 werden regional und lokal evaluiert und zeigen sehr gute Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Im zweiten Modell wird die Landnutzungsveränderung zwischen 1990 und 2000 mit naturräumlichen Kriterien und Fördermaßnahmen in Verbindung gebracht und daraus Regeln für die konkreten Entscheidungen von Landwirten zur Nutzungsveränderung abgeleitet. Dabei wird lineare Optimierung zur Entscheidungsfindung angewandt. Die beiden Ansätze werden einander abschließend in Ihren Komponenten gegenübergestellt, was trotz ähnlichen Ansatzes große Unterschiede in den Entscheidungsprinzipien zeigt.

Einen ebenfalls mikroanalytischen Modellansatz stellt Dirk Strauch in seinem Beitrag vor. Das Verbundprojekt ILUMASS (Integrated Land-Use Modelling and TrAnsportation System Simulation), an dem unter der Projektkoordination des DLR sechs weitere Forschungseinrichtungen beteiligt sind, hat zum Ziel die Wechselwirkungen zwischen Verkehrsnachfrage und Flächennutzung in einem systemorientierten und mikroanalytisch-dynamischen Simulationsmodell umfassend zu konzeptualisieren. Ein weiteres Ziel besteht darin, eine abgestimmte Flächennutzungs- und Verkehrsplanung zu erreichen, indem den Rückkopplungseffekten eine größere Beachtung zukommt. Dabei spielen insbesondere Bestrebungen der räumlichen Disaggregation von statistischen Daten auf die Individualebene eine große Rolle, die durch Agenten repräsentiert eine realistischere Grundlage zur Szenarienbildung liefert. Auch wird der akteursbasierte Ansatz um soziale und psychologische Faktoren erweitert, um die simulierte Verkehrsnachfrage stärker aus ihren Ursachenkontexten heraus zu modellieren. Um diesem mikroanalytischen Ansatz auch räumlich gerecht zu werden, hat man das Untersuchungsgebiet, die Stadtregion Dortmund, in 207.000 Rasterzellen unterteilt. Mit der in naher Zukunft zu erwartenden Realisierung von ILUMASS steht dann ein Modell zur Verfügung, das hinsichtlich der zu verarbeitenden Komplexität vergleichbar mit einigen großen Modellprojekten der USA und Kanada ist. 

Dass Agenten nicht immer und unbedingt mit menschlichen Individuen assoziiert werden müssen, bringt der Beitrag von Martin Galanda und Robert Weibel eindrucksvoll zum Ausdruck, in dem sie ein Multi-Agenten-System zur Generalisierung von Polygonmosaiken in thematischen Karten vorstellen. Aufbauend auf einem von der EU geförderten und kommerziell eingesetzten Projekt zur Generalisierung topographischer Karten nutzen sie MAS, um das allgemeine kartographische Generalisierungsproblem der Überdefiniertheit (das heißt, eine perfekte Lösung ist nicht per se vorhanden) durch ein wiederholtes Durchschreiten des Lebenszyklusses eines Agenten zu einem bestmöglichen Lösungskompromiss zu bringen. Jeder Agent repräsentiert dabei ein Kartenobjekt, das autonom seine eigene Generalisierung durchführt. Um diese iterativen Prozesse zu koordinieren, ist das MAS hierarchisch strukturiert – neben einem globalen Agenten, der für das gesamte Polygonmosaik zuständig ist, und Gruppenagenten, die für Teilbereiche des gesamten Mosaiks verantwortlich sind, existieren Polygonagenten für jedes einzelne Flächenobjekt. Den Koordinationsrahmen stecken sogenannte Generalisierungsbedingungen ab, die sich in der Zufriedenheit eines Agenten bezüglich eines realisierten Zustands äußern. Der gesamte Generalisierungsprozess endet erst dann, wenn der globale Agent zufrieden ist. Als Testgrundlage ihres MAS haben Galanda und Weibel einen Ausschnitt aus dem digitalen Landschaftsmodell der Schweiz im Maßstab 1:25.000 verwendet und daraus Karten im Maßstab 1:50.000 und 1:100.000 generalisieren lassen. Hierbei haben sie für fast 40% der Gruppenagenten und für 50% der Polygonagenten einen perfekten Abschluss der Lebenszyklen erzielt. Diese beachtliche Leistung ihrer MAS-basierten Generalisierung wurde zudem durch menschliche Experten bestätigt.

Der Beitrag von Christian Gloor, Duncan Cavens, Eckart Lange, Kai Nagel und Willy Schmid ist in englischer Sprache abgefasst und stellt das Projekt “Planning with Virtual Alpine Landscapes and Autonomous Agents” vor. Ziel des Projektes ist es MAS als Evaluationsinstrument für Planungen einzusetzen. Besonders der ästhetische Aspekt von Eingriffen in die Landschaft und von Bewirtschaftungsveränderungen ist schwer zu beurteilen und soll daher von künstlichen Agenten aufgrund eines Regelsatzes durchgeführt werden. Die Agenten stellen wandernde Touristen dar, die auf unterschiedliche Szenarien der Landschaftsveränderung verschieden reagieren. Der Beitrag beschreibt das technische Realisierungskonzept des Projektes sehr ausführlich, was einen guten Einblick in die Komplexität der Verfahren und die Probleme bei der rechentechnischen Umsetzung gibt.

Der vorliegende Band ist die erste Publikation zur Simulation mit Multi-Agenten-Systemen in der deutschsprachigen Geographie. Er soll Anstoß dazu geben sich stärker mit dieser Methode in der Geographie zu beschäftigen und sie vor allem in konkreten Projekten einzusetzen. Wir haben als Ergänzung zum gedruckten Band eine Internetseite zum Thema „MAS in der Geographie“ mit der Adresse http://multiagentensysteme.uni-klu.ac.at oder kurz mas.uni-klu.ac.at eingerichtet, von der Sie ergänzende Materialien zu den Artikeln, z.T. die vorgestellten Programme, nicht abgedruckte Bilder oder Animationen herunterladen können. Wir sind auch bestrebt Neuigkeiten im Bereich von MAS, wie neue Publikationen, Tagungsankündigungen, Projektausschreibungen etc. sukzessive auf die Seite zu stellen.

Die Arbeit mit Multi-Agenten-Systemen und deren Simulation ist eine große Herausforderung. Wir Geographinnen und Geographen sollten sie annehmen, denn die Nutzungsmöglichkeiten von MAS in unserem Fach sind vielfältig und die Ergebnisse vielversprechend, wie die Artikel in der vorliegenden Publikation zeigen. Die Herausgeber danken den Autoren recht herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit sowie dem Herausgeber der Klagenfurter Geographischen Schriften, Herrn Prof. Dr. Martin Seger und dem Schriftleiter, Herrn Dr. Friedrich Palencsar für die Aufnahme des Bandes in die Publikationsreihe und die Arbeiten dazu.

 

Andreas Koch und Peter Mandl, Dezember 2003